Der Troll

06 Leseproben

Der Troll

„Der Troll“, las Mama Julia ihren beiden Söhnen vor, „ist ein Fabelwesen mit zottiger, menschlicher Gestalt und nur vier Fingern an jeder Hand. Er kann riesig werden, und ihm möchte man nicht begegnen.“ „Warum hat der Troll nur vier Finger, Mama?“, fragte der jüngere Sohn. „Weil ihm vier Finger reichen, um dich zu packen!“, sagte der ältere Sohn im Spaß. „Quatsch!“, widersprach Mama Julia, aber trotzdem, ein gewisses Unbehagen blieb nach der Geschichte zurück. Am nächsten Tag gingen die drei durch einen tiefen Wald. Sie wollten in die Stadt, um neue Bücher zu besorgen, und dazu mussten sie den Wald durchqueren, der einen Bergrücken bedeckte. In diesem Wald, so sagte man, gab es Feen und Kobolde. Und hinter dem Berg hauste ein riesiger Troll. Natürlich glaubte heutzutage niemand mehr so recht daran, aber die beiden Söhne erzählten sich hinter vorgehaltener Hand davon und malten sich die Details in schillernden Farben aus. „Was würdest du tun, wenn der Troll kommt?“, fragte der älteste Sohn seine Mutter. „Ich würde eine Steinlawine auslösen, unter der er begraben wird“, antwortete diese spontan. „Und du?“, fragte nun der Größere den Kleinen. „Ich glaube, Trolle sehen nicht gut. Ich würde mich zusammenrollen und mich nicht bewegen, so dass er denken würde, ich sei ein Fels“, sagte der Kleine. „Und du?“, fragte er dann den Größeren. „Ich würde die Feen und Kobolde zu Rate ziehen“, sagte der. „Und wenn es die gar nicht gibt?“ „Dann gibt es den Troll auch nicht“, gab der Ältere schlagfertig zurück. In diesem Moment dröhnte es, und die Erde bebte. „Wer spricht da unerlaubt über mich?“, donnerte eine Stimme über die Wipfel der Bäume hinweg. Alle drei standen wie angewurzelt. Der Jüngste reagierte als erstes. „Zusammenrollen!“, zischte er, kippte vornüber und hielt seine Beine fest. Tatsächlich, das sah beinah aus wie ein Fels. Aber drei solcher „Felsen“ nebeneinander? Nein, das war nicht glaubwürdig. „Ich komme, mir anzusehen, wer da über mich spricht!“, grollte es, und die Stimme klang näher als zuvor. Da nahm Mama Julia einen kleinen, runden Stein und schnippte ihn den Abhang hinunter. Er stieß gegen einen anderen Stein, der sich lockerte und nun ebenfalls losrollte, bis er einen dritten Stein erreichte, der noch größer war und den er mitriss. So kam es, dass bald der gesamte Wald in Bewegung war und eine Steinlawine in Bewegung gesetzt wurde, die jeden Stier umgeworfen hätte. Nun war der Troll aber kein Stier. Er hatte sehr feine Ohren, und obwohl die Steinlawine ihn genau getroffen und sogar unter sich begraben hätte, brachte sich der Troll rechtzeitig in Sicherheit, weil er die Gefahr hatte kommen hören. Nun war er böse. Himmel, war der Troll sauer. Wenn Trolle sauer sind, sind sie zu allem fähig. Dieser Troll aber war zu mindestens allem fähig, so wütend war er. „Ihr dringt ungefragt in meinen Wald ein. Ihr unterhaltet euch über mich und stört damit meine Ruhe. Und nun wollt ihr mich also noch unter Steinen begraben sehen?! Euch werde ich zeigen, was ein Troll ist. Ich werde euch lehren, wer ich bin!“ Der Jüngste zitterte vor Angst. Mama Julia dachte scharf nach. Und ihr ältester Sohn? Er stellte sich breitbeinig auf und rief: „Gut, dann zeig dich, wenn du dich traust! Komm her, wenn du den Mut dazu hast! Brüllen kann man viel!“ „Bist du verrückt geworden? Jetzt kommt er tatsächlich her!“, zischte Mama Julia. „Lass mich nur machen“, sagte ihr Sohn ruhig, während die Erde unter den Schritten des Trolls bebte. Dann stand er da: Drei Häuser hoch, behaart, mit einer großen Nase – und er hatte tatsächlich nur vier Finger an jeder Hand! „Du glaubst, wir dürfen nicht durch diesen Wald gehen? Wer sagt, dass er dir gehört?“, fragte der ältere Sohn. „Wer das sagt? Na, ich sage das! Gibt es etwa sonst noch jemanden, der hier was zu melden hat?“ „Wenn es dich gibt, gibt es auch Feen und Kobolde“, entgegnete der Sohn. „Hm“, der Troll kratzte sich am Bauch. „Schon mal gehört“, murmelte er. „Und wo sind sie, deine Fobolde und Keen?“, fragte er. „Die Kobolde und Feen. Sie sind eher schüchtern, du müsstest dich hinsetzen, damit sie herauskommen“, sagte der Junge einfach das, was ihm spontan in den Sinn kam. „Gut“, der Troll ächzte. „Feen und Kobolde, ihr könnt herauskommen!“, rief der Junge in den Wald hinein. Alle lauschten mit allem, was sie hatten, auch der Troll. Der sagte schließlich: „Da hinten schwirrt es“, und zeigte ins Dunkel des Waldes. Tatsächlich, da hinten sah man kleine Lichter auf- und abfunkeln. „Das sind sie“, flüsterte der jüngste Sohn, der ganz vergessen hatte, dass er ein Stein war. Die Feen, es mochten zwei Dutzend sein, kamen geflogen. Zart waren sie und schön, wie in den Geschichten. Von der anderen Seite kamen die Waldkobolde mit kleinen Lampen. Sie sahen fast aus wie Zwerge und trugen spitze Schuhe, die mit der Schuhmode nicht mithalten konnten und es auch nicht versuchten. Diese Wesen waren unendlich viel kleiner als der Troll, ja, kleiner als die drei Menschen. Und doch schien der Troll Respekt vor ihnen zu haben. „Jetzt gehört mir der Wald schon so lange, und euch habe ich noch nie gesehen!“, sagte er. „Das mag daher kommen, dass der Besitzer nicht kennt, was ihm gehört“, sagte eine der Feen, offenbar ihre Anführerin. „Wie meinst du das?“, fragte der Troll. „Na, du glaubst doch, diesen Wald zu besitzen?“, fragte die Fee. „Aber ja, das tue ich!“, rief der Troll aus. „Dann meinst du auch, den Wald zu kennen!“, sagte die Fee. „Wie meinen eigenen Hintern“, sagte der Troll. „Hm“, machte die Fee und gab vor nachzudenken. „Wie kommt es dann, dass du nicht weißt, dass es uns gibt?“, fragte sie dann. „Hmpf“, machte der Troll. Nachdenken gehörte nicht zu seinen Stärken. „Wie wäre es, wenn du uns eine Aufgabe stellst?“, fragte der älteste Sohn von Mama Julia da. „Ich?“, fragte die Fee sichtlich geehrt. „Ja, du“, sagte der Bub fest. Die Fee dachte nach. Dann sagte sie zum Troll und zu dem Bub: „Eine Hand ist eine Hand, richtig?“ Der Troll dachte nicht lange nach. „Richtig“, sagte er. „Und wenn also alle Hände gleich sind, welche Hand gleicht dann deiner?“ „Na, die des Jungen hier“, sagte der Troll und nickte hinüber. „Und du“, sagte die Fee, an den Bub gewandt. „Welche Hand gleicht deiner?“ Der Junge musste nicht lang überlegen. „Meine Hand gleicht keiner Hand, denn meine Hand ist einzigartig.“ „Das bedeutet, deine Finger sind nur bei deiner Hand so, wie sie sind?“, fragte die Fee nach. Der Bub nickte. „Das ist richtig.“ „Dann zählt mal beide die Finger eurer Hand“, befahl die Fee. „Fünf“, sagte der Bub. „Vier“, sagte der Troll und sah einigermaßen verwirrt aus. „Du hast Trollhände mit nur vier Fingern. Der Bub hat Menschenhände mit fünf Fingern“, klärte ihn die Fee auf. Der Troll zählte so oft nach, bis ihm schwindelig wurde. Dann gab er auf. „Und was heißt das also?“, fragte er leicht entnervt. „Das heißt, dass der Junge entscheiden darf, wie die Begegnung ausgehen soll“, sagte die Fee bestimmt. Der Bub zögerte kurz, dann sagte er: „Der Troll darf weiterhin hinter dem Berg wohnen. Aber hierherkommen und die Leute erschrecken, das darf er nicht mehr. Er teilt den Wald mit euch allen“, sagte er und fügte schnell noch hinzu: „Und mit uns.“ Der Troll, der nicht alles ganz recht verstanden hatte, hatte das Gefühl, als Sieger aus der Begegnung hervorgegangen zu sein. Aber die Menschen hat er von da an in Ruhe gelassen.

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